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Mittwoch, 27. Juni 2012

Der alte Mann



Er war jetzt 95 Jahre alt. Lebte noch allein. Er konnte sich helfen. Nur mit dem Kochen... das ging nicht mehr so. Er vergaß manchmal den Herd abzuschalten. Hatte einfach nicht mehr die Geduld, zu schnipseln, schälen, seine Hände zitterten dabei.

Aber er lebte sein Leben noch gut, allein, in der Wohnung, voller Erinnerungen, mit ihr, seiner geliebten Frau. 6o Jahre wären es gewesen, wenn sie jetzt noch lebte. Aber sie hatte ihn allein gelassen. War verschwunden im Nebel des Vergessens und hat am Ende aufgegeben. Er fühlte sich einsam ohne sie. All das gemeinsame Erleben.

Aber er hatte noch sie. Die Tochter. Und ihren Mann. Sie kümmerten sich. Liebevoll. Jeden Tag fuhr er zu ihnen. Morgens stand er auf, tat das Nötigste in der Wohnung. Trank seinen Kaffee, las immer noch seine Regionalzeitung und dann machte er sich fertig.

Heute fiel es ihm nicht einfach. Das Zittern der Hände sonst, hatte seinen ganzen Körper ergriffen. Er fühlte sich schwach...Er könnte anrufen. Sie, die Tochter. Aber solange es ging... allein...dachte er...Es geht schon...es muss gehen..... Alles andere wäre Aufgabe...er wollte sich nicht aufgeben....

Er zog seinen Mantel an, setzte den Hut auf, den alten, schon etwas angegriffenen von  den Spuren seines Lebens, durch den er ihn getragen hatte. Der Schal, die Handschuhe. Er drehte sich nochmal um, ging noch mal zum Herd. Er war aus. Dann zog er die Tür hinter sich zu und trat auf die Straße.
Die Wege waren vereist, er schlitterte ein wenig, suchte Halt, an der Wand, an einem Laternenpfahl. Er kam langsam voran, aber es ging.
Die Treppen...die Treppen, die machten ihm Angst. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, die Hand krampfhaft am Geländer..... Menschen hasteten an ihm vorbei, einige berührten ihn, sanft oder hektisch, ihn nicht beachtend...merkten nicht, das er mehr Zeit brauchte....Sie dachten nicht daran, dass sie auch mal, später, wie er, tastend und ängstlich den Weg suchen mussten.... Hatte er daran gedacht, früher? Er konnte sich nicht erinnern. Es war wohl so...Man denkt nicht an Morgen.....
Die Gedanken beschäftigten ihn, während er behutsam einen Schritt vor den anderen setzte... Er hatte keine Erinnerung mehr, später, als er, das Hinabsteigen bewältigt hatte, die Bahn sah und ein wenig schneller auf sie zugehen wollte. Er hielt Rückschau....sah sich schwankend der Bahn nähern.

Sein Körper schwächelte im Moment der Geschwindigkeit...als er schneller sein wollte. Dann war alles schwarz...für eine lange Zeit..... er spürte nur noch Schmerz..im ganzen Körper... konnte seinen Fuß nicht mehr bewegen....ihm war kalt.... Aufstehen....er konnte nicht aufstehen......Er lag einfach da.....still,

unbeweglich und lauschte, gezwungenermaßen, hörte die Stimmen... die Schritte, die an ihm vorbeiliefen.....ein Durcheinander von Stimmen...... er konnte nicht alles verstehen... nur den einen Satz, von etwas weiter her.... laut gerufen, zu ihm herüber.... Diesen Satz hatte er nicht vergessen.....jetzt, wo er sicher war..... in diesem Bett, weich, duftend und sauber...wie er dahin gekommen war, er wusste es nicht mehr... es ging alles so schnell.....
Aber diesen Satz, den hörte er immer wieder......
"Der ist doch besoffen!".......
Und es liefen ihm tatsächlich Tränen über die Wangen....... "Sie weinen?", fragte die Schwester ihn....
"Ach, halb so wild....", antwortete er und schlief gleich darauf ein.....

In keiner Weise dürfen wir uns dazu bewegen lassen, die Stimme des Mitgefühls in uns zum Schweigen zu bringen.

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